Petra Lewe
Petra Lewe ist zertifizierter Coach für Psychosynthese und Beraterin in Humanpsychologie. Sie ist Partnerin und Head of Community & Quality bei Leadership Choices.
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Selbstführung in bewegten Zeiten
Führungskräfte haben die Aufgabe, Mitarbeiter zu führen – und sich selbst. Doch gerade dieser zweite Aspekt war nicht immer so deutlich sichtbar wie jetzt. Woran das liegt, welche Bedeutung Selbstführungskompetenz für Führungskräfte hat und inwieweit sie sich trainieren lässt, habe ich Petra Lewe gefragt. Sie ist Coach und Partnerin von Leadership Choices. Für sie ist Selbstführungskompetenz die Metakompetenz der Zukunft.
Frau Lewe, wir befinden uns in sehr herausfordernden Zeiten. Wie haben Sie die vergangenen Wochen erlebt und wie erleben Sie die Situation aktuell? Auch im Hinblick auf die (Vertriebs-)Führungskräfte, die Sie coachen?
Die Situation hat sich nicht stromlinienförmig weiterentwickelt, es gibt unterschiedliche Richtungen. Zunächst einmal sind wir durch das Tal der Tränen gegangen – im Change-Prozess sprechen wir von der U-Kurve. Da gab es einen Prozess voller Risiken, der viel Energie gekostet hat, verbunden mit einem Leistungsabfall in Talrichtung. Wie tief jemand in Richtung Tal gesunken ist, das ist allerdings unterschiedlich. Bei manchen Menschen gab es eine sehr tiefe Kurve, bei anderen war die Talsohle nicht so weit unten. Hat das schon mit der Selbstführungskompetenz zu tun, über die wir in diesem Interview sprechen werden? Zum einen hängt es mit der Selbstführungskompetenz zusammen, zum anderen mit der der Krisenfähigkeit des jeweiligen Unternehmens. Mit dem Shutdown mussten plötzlich Dinge ganz schnell geschehen, wie die Digitalisierung vieler Prozesse und nahezu der gesamten Kommunikation – und dies alles ohne die sonst üblichen Risikoprozesse. Unternehmen, die dafür gut aufgestellt waren, konnten das sehr schnell hinbekommen, andere haben sich schwerer damit getan und mussten deutlich stärker aus ihrer bisherigen Komfortzone heraustreten. Das wirkte sich natürlich auf die mentale Verfassung insbesondere der Führungskräfte aus. Doch insgesamt haben das alle ganz gut hinbekommen. Ich wüsste jetzt kein Unternehmen, bei dem die Digitalisierung überhaupt nicht geklappt hat und alle Mitarbeiter gestrandet sind. Das klingt doch ziemlich positiv… Nicht alles sehe ich positiv. Manche Führungskräfte und Unternehmen gehen gestärkt aus der Krise hervor, sie hatten bereits vorher ein gutes Krisenmanagement und eine gute Connectivität mit den Mitarbeitern. Sie können nach Corona wirklich sagen: „Was haben wir in diesen schwierigen Zeiten alles geschafft!“ Dann gibt es aber auch die, die die Tendenz haben, wieder in die alten Muster und Strukturen zurückzufallen, sobald es die Situation erlaubt. Für sie war die Corona-Zeit nur eine unangenehme Phase, die sie durchleben mussten. Danach sind sie froh, wenn sie wieder auf ihre etablierten Muster zugreifen können. Und es gibt Unternehmen, die jetzt krisengeschüttelt sind und so starke finanzielle Einbußen erlitten haben, dass sie schauen müssen, wie sie überhaupt durchkommen. Die erleben eine Krise nach der Krise. Was bedeutet das jetzt für eine Führungskraft und insbesondere für ihre Selbstführung? In der Krise ist es die Aufgabe der Führungskraft, dank guter Selbstführung für Ruhe und Orientierung zu sorgen. Gerade jetzt wird die Vorbildfunktion einer Führungskraft sehr viel stärker abgerufen als in sogenannten guten oder normalen Zeiten – wobei wir ja schon längst in der VUCA-Welt leben, die geprägt ist von Disruption. Ruhig und verlässlich ist schon lange nichts mehr. Sie sprachen von „nach Corona“ – Corona ist ja noch nicht vorbei… Natürlich sind wir noch nicht durch. Dennoch lässt sich die erste Phase während des Shutdowns gesondert betrachten. Die Situation hat uns eiskalt erwischt, niemand war darauf vorbereitet, wir hatten keine Prozesse dafür. Jetzt sind wir soweit, dass wir, sollte uns nochmal das Gleiche ereilen, darauf vorbereitet sind. Warum ist die Selbstführung gerade jetzt, in Zeiten von Corona, so besonders wichtig? Ist es nicht immer von Vorteil, sich selbst gut führen zu können, insbesondere für Führungskräfte? In Krisenzeiten wird die Selbstführungskompetenz deutlich sichtbar, und zwar für alle Mitarbeiter. In sogenannten guten Zeiten ist sie nicht immer so stark wahrnehmbar, vor allem dann nicht, wenn es gerade mehr oder weniger von selbst gut läuft, aufgrund der Konjunktur und der Nachfrage. Fallen diese weg, wird sehr schnell sichtbar, wie es um die Selbstführungskompetenz einer Führungskraft bestellt ist. Wobei ich mittlerweile schon etwas vorsichtig damit bin, Begriffe wie „Corona“ oder „Krise“ allzu häufig zu verwenden, sie sind sehr negativ und nicht jeder möchte sie ständig hören. Deshalb spreche ich gerne von disruptiven Zeiten und der VUCA-Welt. Was macht es denn für einen Unterschied, sich in disruptiven Zeiten gut führen zu können? Die Notwendigkeit wird größer. Selbstführung ist kein Luxus, sondern es geht nicht ohne. Das beginnt ja schon im privaten Bereich, in der Familie – auch da gibt es Herausforderungen, die eine gute Selbstführung erfordern. Selbstführung ist die Meta-Kompetenz der Zukunft. Wie erleben Sie die Selbstführungskompetenz von Führungskräften, insbesondere im Vertrieb? Es gibt Menschen, die sind von ihrer genetischen Veranlagung her robuster als andere. Wer dagegen dünnhäutig ist, dem gehen Dinge sehr nahe – bei solchen Menschen ist die Talsohle tiefer und sie brauchen deutlich länger, um aus ihr wieder herauszukommen. Deshalb sind die Robusten zunächst einmal genetisch begünstigt – wobei es ihnen häufig an Bewusstheit und der Fähigkeit zur Selbstreflexion mangelt. Diese sind bei sensiblen Menschen sehr viel stärker ausgeprägt. Allerdings reagieren sensible Führungskräfte bei Schocksituationen mit starker Aufregung. Das ist für Mitarbeiter, die gerade jetzt psychologische Sicherheit brauchen, kontraproduktiv. Ein Mittelfeld gibt es natürlich auch. Inwieweit lässt sich Selbstführungskompetenz trainieren? Ist sie mehr eine Frage der Haltung oder der Technik? Sie lässt sich trainieren wie ein Muskel. Und sie ist eine Mischung aus beidem, wobei ich nicht so gerne von Technik spreche, eher von Maßnahmen. An erster Stelle steht die Selbstreflexion, sie kommt vor der Haltung. Da geht es zunächst einmal darum, herauszufinden, mit welchen Sichtweisen, Denkmustern jemand behaftet ist und in welchen Hamsterrädern er sich befindet. Indikatoren sind beispielsweise das Feedback von Mitarbeitern und die emotionale Besprechbarkeit. Daraus kann man ableiten, wo man schwächelt. Anschließend gilt es, eine neue Haltung einzunehmen, disfunktionale Muster zu durchbrechen und neue Maßnahmen einzuleiten, die die Selbstführungskompetenz stärken und darauf nachhaltig wirken. Selbsterkenntnis reicht also nicht für eine nachhaltige Wirkung? Selbsterkenntnis bewirkt schon ziemlich viel – vor allem wenn es darum geht, sich Denkmuster überhaupt erst bewusst zu machen. Das ist die Voraussetzung, um sein Verhalten wirksam zu ändern. Wir bei Leadership Choices haben in unserem Resilienzmodell acht Aspekte, die wir berücksichtigen: die Persönlichkeit, die Biografie, die Haltungsebene, das Energiemanagement, die Hirn-Körper-Achse (also das Verhältnis von Geist und Körper), die mentale Agilität (dazu gehört die Bereitschaft, aus der Komfortzone herauszutreten), die Beziehungen (das sind nicht die Freunde, mit denen man abends ein Glas Wein zusammen trinkt, sondern das sind Menschen außerhalb des Unternehmens, die kritisch Feedback geben, wie zum Beispiel Coaches), außerdem die Frage nach dem Sinn – was im Vertrieb beinhaltet, dass ich mir eben auch bewusst mache, warum und wofür ich täglich aufstehe und welchen Wert ich in den Produkten oder Dienstleistungen sehe, die ich verkaufe. Es ist nun mal nicht damit getan, einfach nur ein schlaues Buch über Krisenmanagement oder Selbstführung zu lesen. Denn erst auf der Haltungsebene finden die Veränderungen statt, deshalb bedarf es der Reflexion und der Bewusstmachung. Damit sich neue Muster und Rituale etablieren, arbeiten wir mit den limbischen, unbewussten Ebenen, das hat nochmal eine ganz andere Strahlkraft und wirkt entsprechend nachhaltig. Woran lässt sich denn eine Führungskraft erkennen, die sich selbst gut führt? Sie ist reflektiert und handelt im Selbstbewusstsein. Ihren Mitarbeitern ist sie ein wirkliches Vorbild. Sie führt durch Feedback und ist selbst offen für Feedback, sie hat eine starke emotionale Präsenz und trifft nachvollziehbare Entscheidungen. Sie pflegt eine offene Fehlerkultur und fördert die Resilienz ihrer Mitarbeiter. Wer sich selbst gut führt, hat sich auch ein starkes Umfeld geschaffen, das für Herausforderungen und Krisen gut aufgestellt ist. Wie ist es mit Führungskräften, die sehr autoritär, also direktiv, führen? Nach außen hin scheinen sie ja über eine gute Selbstführung zu verfügen. Ausschließlich direktiv zu führen, funktioniert in der heutigen Zeit nicht mehr. Es gibt Situationen, in denen es eine klare Ansage braucht – da ist für einen kurzen Moment ein direktiver Führungsstil notwendig. Eine gute Führungskraft beherrscht die ganze Klaviatur der Führungsstile – also auch die transformativen, bei denen Strukturen verändert werden und es Wachstumsangebote für die Mitarbeiter gibt. Dazu gehören der partizipative, der inspirative, der integrative und der coachive Führungsstil. Sie alle sind in unterschiedlichen Situationen angebracht und wer sich selbst gut führt, erkennt, welche Situation welchen Führungsstil erfordert. Transaktionale Führungsstile wie der direktive und auch der normative Führungsstil werden nur in bestimmten Ausnahmesituationen benötigt. Von daher widerspricht ein ausschließlich direktiver Führungsstil einer guten Selbstführung. Wobei ich fairerweise hinzufügen möchte, dass es durchaus Zeiten gab, in denen der direktive Führungsstil notwendig war, etwa beim Aufbau von Unternehmen. Da war Vorgabendenken essenziell. Der Chef der Zukunft allerdings lebt in einer Welt, die so komplex ist, dass es nicht mehr möglich ist, alles allein zu entscheiden. Er ist auf Kooperation und Feedback angewiesen. Spannende und herausfordernde Zeiten… Wir leben wirklich in sehr spannenden Zeiten, alles ist in Bewegung, das ist in den vergangenen Wochen nochmal sehr deutlich geworden. Gerade deshalb ist für mich Selbstführung die Metakompetenz der Zukunft. Nur mit guter Selbstführung lassen sich die permanente Ungewissheit und die ständigen, teilweise abrupten Veränderungen, wie wir sie jetzt erlebt haben, aushalten. Selbstführung beinhaltet die Bereitschaft, dies alles anzunehmen. Und gerade für eine Führungskraft im Vertrieb ist Veränderungsbereitschaft ja ohnehin eine wesentliche Erfolgsvoraussetzung. www.leadership-choices.com
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